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Aus dem Buch Lauftherapeutin, Lauftherapeut

978-3-96423-085-0 (ISBN)

Lauftherapie bei Sehbehinderung und Blindheit

von Verena Wegener

Immer wieder stelle ich mir die Frage, wie es wäre, wenn ich all das, was ganz selbstverständlich zu meinem Alltag und Leben gehört, nicht bzw. nicht mehr machen könnte. Wenn ich durch genetische Vorbestimmung oder einen Unfall in eine Lebenssituation katapultiert würde, die alles verändert. Besonders das Augenlicht bestimmt dabei meine Gedanken, weil von ihm so viel abhängt.

Auf mein Laufen bezogen: Ich war gesund und fit – und es war für mich selbstverständlich, die Laufschuhe zu schnüren und einfach los zu joggen. Dankbar für viele glückliche Momente, die ich auf zahlreichen Laufveranstaltungen genießen durfte, dachte ich in solchen Augenblicken noch wenig über diejenigen nach, die auf dieses verzichten mussten, weil sie körperlich nicht dazu in der Lage waren.

Gut zehn Jahre später suchte ich nach einem neuen Zugang zum Laufen. Ich wollte noch einmal von vorne, anders beginnen und meldete mich zu einem Gesundheitskurs der Krankenkasse an: “Laufen leicht gemacht”. Schnell stellte ich fest, dass sich dahinter etwas ganz Besonderes verbarg. Genau dieses Anfängertraining hätte ich mir bei meinem damaligen Start gewünscht. Aber von Lauftherapie hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts gehört.

In dem Kurs nun lernte ich junge und ältere Hilfesuchende kennen, die noch niemals gelaufen waren und sich nicht oder schon lange nicht mehr ausdauernd bewegt hatten. Sie waren übergewichtig, litten an Asthma oder hatten einen Herzinfarkt hinter sich. Stressgeplagte, privat oder beruflich, hofften, durch die Lauftherapie wieder lebenswerte Momente zu erfahren. Dass ein Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe entsteht, das verbindet und die persönliche Last ein wenig kleiner erscheinen lässt. Dass Probleme leichter verarbeitet werden und der Blickwinkel darauf sich verändert. Ich hatte zu dieser Zeit keine dieser Belastungen zu bewältigen. Vielmehr war mir wichtig, andere, bisher unbekannte Erfahrungen zu machen. Ich wollte mir selbst näher kommen und ein anderes Lauferlebnis spüren. Und dabei faszinierte mich die neue Art zu laufen. Ich beobachtete die Gruppe und mich, versuchte dieses und jenes Ereignis aus den gemeinsamen Treffen zu analysieren. Die Menschen, ihre Beweggründe an dem Kurs teilzunehmen, ihre Fortschritte, gegebenenfalls auch Rückschritte interessierten mich.

Der Gedanke, an meinem Heimatort einen Lauftreff zu gründen, nahm auf einmal Gestalt an. Mein erarbeitetes Konzept kam beim Sportverein, bei dem ich Mitglied bin, gut an. Ich erstellte Flyer und Poster, verteilte sie im Ort und veröffentlichte sie auf der Vereinssportseite im Internet. Im gleichen Zeitraum reiste ich nach Bad Lippspringe, um mich im Deutschen Lauftherapiezentrum (DLZ) zur Laufgruppenleiterin – eine von drei vom DLZ angebotenen Weiterbildungen – ausbilden zu lassen. Dort beschäftigte ich mich zum ersten Mal mit dem “Paderborner Modell”. Nach einem standardisierten, festgeschriebenen mehrwöchigen Programm “lernen” Untrainierte, sich läuferisch zu bewegen, um sich wohler und gesünder zu fühlen. Das Ziel dabei ist, die erfahrene Freude an ausdauernder Bewegung stetig in sein eigenes Lebenskonzept einzubauen. Mit diesem Basiswissen und vielen motivierten Läufer:innen, die sich entspannt und ohne Druck vom anstrengenden Tagesgeschehen erholen wollten, leitete ich dann meine eigene Laufgruppe.

Als ich in der “DLZ-Rundschau” einen Artikel über Lauftherapie bei Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit las, wusste ich plötzlich, was in meinem Leben fehlte. Genau das wollte ich: Blinden mein Augenlicht zur Verfügung stellen, damit sie sich genauso wie Sehende läuferisch gesund bewegen können. So reiste ich im Juni 2015 nach Basel, um die dort von „Blind Jogging“ angebotene Ausbildung zur Running Guide für sehbehinderte und blinde Läufer:innen zu absolvieren. Bereits als ich die zur Vorbereitung auf diese Weiterbildung notwendigen Unterlagen studierte, wurde mir klar, dass genau hier (m)eine Aufgabe auf mich wartete.

 

Einübung in den Blindenlauf

Wie fühlt es sich an, sich als Sehende führen zu lassen? Die Augen sind dabei nicht nur geschlossen. Sie werden mir zusätzlich mit einer schwarzen Augenbinde nochmals so abgedunkelt, dass kein Licht mehr hindurchscheint. “Ich gebe Dir das Band und Du lässt Dich ganz einfach von mir führen!”, sagte mein Lehrer. Und so war ich ihm ganz einfach “ausgeliefert”. Es gab kein Zurück. Augen zu und durch!, wie es so lapidar heißt. Was das bedeutete, wurde mir erst wirklich und am eigenen, sonst entspannten Körper klar. In dem Kurs lernte ich, dass immer wieder “Vertrauen” das Zauberwort war. Wenn ich meinem Laufpartner nicht vertraue, werde ich nie am Ziel ankommen. Also nochmal: Augen zu und durch! Herzklopfen, Schweißausbrüche, stille Hilferufe begleiteten mich, als mich sodann ein Trainingspartner, der noch genauso wenig Erfahrung im Umgang mit dem Blind Jogging hatte, führen sollte. Selbst die kleinste Unebenheit auf dem Bürgersteig spürte ich, wenn er mich zu spät darauf aufmerksam machte. Eine Hecke, die zu sehr in den Bürgersteig hineingewachsen war, erschreckte mich. Herunterhängende Zweige berührten mein Gesicht ohne Vorankündigung wie kurze Hiebe. Wie kann ich die Treppe hinuntergehen, ohne zu fallen? Um mich herum waren so viele fremde und auch bekannte Geräusche. Sie verunsicherten mich und machten mir auf einmal Angst.

Das alles war nur die Übungseinheit. Die Kür bestand darin, mit einer Sehbehinderten zu laufen, sie im Tandem zu begleiten, ihr den Weg zu weisen. Das war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Menschen, die nicht oder sehr wenig sehen, können sich trotzdem gut orientieren. Mir waren diese Eigenschaften im Laufe meines Lebens „verlorengegangen“, weil ich mich nicht darum bemühen musste. Mit einer Selbstsicherheit, die ich anfangs nicht einordnen konnte, gab mir meine sehbehinderte Laufpartnerin manchmal Kommandos, die ich als angehende Guide hätte geben müssen. Zweifel kamen auf, ob sie wirklich nichts sehen konnte. Und genau das ist das Fatale daran: Sehbehinderte und Blinde haben Stärken, die ihnen das Leben erleichtern können. Sie verfügen über eine besondere Sensibilität, Dinge zu erspüren, die ein Sehender niemals wahrnehmen würde.

 

Eigene Praxis

Nach der Ausbildung reiste ich mit vielen Ideen zurück. Ich holte meine Unterlagen zur Laufgruppenleiterin hervor, nahm das Lehrmaterial von Blind Jogging und erstellte mir einen Plan. Ich wollte mit einer Person, die nicht sehen kann, laufen. Nicht in der Gruppe, sondern eins zu eins im Tandem, so wie ich es in Basel gelernt hatte. Dazu nahm ich Kontakt zum hiesigen Blindenverband auf. Dort bot sich die Gelegenheit, mich bei einem Treffen der Selbsthilfegruppe des Regionalvereins Nord-Ost-Niedersachsen in Lüneburg vorzustellen. Den sogenannten Sprung ins kalte Wasser wollte ich mit allen Unwegsamkeiten, die sich vielleicht noch auftun würden, wagen und einem nicht-sehenden Menschen das Laufen ermöglichen. Also suchte ich eine “Versuchsperson”, an der ich meine neu erworbenen Fähigkeiten “ausprobieren” konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja bereits Erfahrungen mit meiner eigenen Laufgruppe im Sportverein.

Iris, eine Frau Mitte fünfzig, war mutig und ließ sich auf mich ein. Sie ist blind und Mitglied im Regionalverein des Blinden- und Sehbehindertenverbandes. Ich holte sie immer dienstags und donnerstags von zu Hause ab und wir absolvierten ein zwölfwöchiges Trainingsprogramm im städtischen Kurpark. Danach war sie in der Lage, 30 Minuten ohne Pause im langsamen Tempo zu laufen. Im dann folgenden gleichen Zeitraum erarbeiteten wir 60 Minuten. Nicht alleine die sportlichen Einheiten und Erfolge waren mir wichtig. Iris wurde immer offener, wirkte selbstsicherer und sie begann, Dinge im privaten und beruflichen Alltag anders zu erleben. Sie beschäftigte sich mit dem Thema Laufen und setzte sich auch hier eigene Ziele. Sie war ehrgeizig und nahm gemeinsam mit mir im Tandem an Laufveranstaltungen teil. Diese besondere Entwicklung zu beobachten, die sie durch das Laufen erfahren durfte, gab mir Zuversicht und Bestätigung, das Richtige zu tun. Aber ich wollte mich noch besser qualifizieren und entschloss mich, nun auch die Ausbildung zur Lauftherapeutin zu machen. Während der Lehrphase in Bad Lippspringe wurde mir immer klarer, was ich mit dem neu erworbenen Wissen machen würde. Alles entwickelte sich in Richtung Sehbehinderung und Blindheit und damit war die Zielgruppe, mit der ich arbeiten wollte, vorbestimmt.

Meine Vorstellung war: Ich würde mich mit anderen Guides austauschen, die in der Nähe leben, und gemeinsam in der Gruppe mit mehreren Tandems laufen. Dieses alles bot sich leider nicht. Also musste ich anders aktiv werden. So fragte ich bei der hiesigen Volkshochschule an, ob ich im Frühjahr einen Kurs anbieten könnte. Ich wollte Interessierte zu Running Guides ausbilden. Das von mir erstellte Konzept mit Lehrplan überzeugte, die Werbung übernahm die VHS. Doch es ist nicht leicht, ein Thema bekannt zu machen, das viele Menschen mit Vorbehalt betrachten. Sehbehinderung oder Blindheit wird oft in eine Schublade gesteckt, die den Namen “Behinderung” trägt. Und damit möchten sich die Wenigsten gerne beschäftigen. Das zeigte sich dann auch in der Anmeldeliste: Lediglich vier Läufer:innen hatten sich eingeschrieben. Die VHS erklärte sich dennoch bereit, den Kurs durchzuführen. Um die Kosten möglichst gering zu halten, bot mir mein Vorgesetzter an, die Räumlichkeiten im Blindenverein zu nutzen. Das war für mich eine gute Lösung, denn damit konnte ich gleichzeitig den Regionalverein des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Niedersachsen, bei dem ich seit 2018 als Arbeitsplatzassistenz für meinen blinden Chef arbeite, ein wenig bekannter machen.

Gemeinsam mit den nun ausgebildeten Running Guides trafen wir uns dann regelmäßig mit zwei oder drei Sehbehinderten und Blinden zum Laufen im Park. Es ist nicht nur schwierig, Guide-Interessierte zu finden, sondern ebenso blinde und sehbehinderte Menschen, die mit Begleitung laufen (lernen) möchten. Viele trauen es sich nicht zu und lassen es dann lieber gleich. Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

Der für das Herbstprogramm ausgeschriebene VHS-Kurs kam nicht mehr zustande. Ich war sehr enttäuscht, aber überzeugt, dass es wichtig war, weiter zu machen. Ich entschloss mich, Verbindung zu unserem hiesigen Kreissportbund (KSB) aufzunehmen. Ich dachte dabei an das Projekt “Teilhabe am Vereinssport”, das aus der Kooperation zwischen dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und der Aktion Mensch entstanden war. Daraus entwickelten der LandesSportBund Niedersachsen (LSB) und der Behinderten Sportverband Niedersachsen (BSN) ein Programm mit dem Ziel, “Inklusion durch Sport” umzusetzen. Sehbehinderten und blinden Menschen durch die Bereitstellung qualifiziert ausgebildeter Running Guides eine Tür zum Vereinssport zu öffnen, passte da gut ins Konzept. Kurz vor der Durchführung meines Kurses musste dieser jedoch wegen der bestehenden Pandemie abgesagt werden.

 

Fazit

Diese Höhen, aber auch Tiefen durchlebte mein blinder Chef mit mir. Immer wieder unterstützt/e er mich, steht mir mit seinem Rat und guten Ideen zur Seite. Wir werden noch einen längeren Weg vor uns haben, bis sich das erfüllt, was ich mir beim Blind Jogging wünsche: interessierte Menschen, die Running Guide werden möchten, und sehbehinderte und blinde Läufer:innen, die Freiheit beim geführten Laufen erfahren wollen.

Die Ausbildung zur Lauftherapeutin hat mir die Motivation gegeben, meinen Weg zu gehen. Dieser Weg sollte darin bestehen, besser für mich selbst zu sorgen und gleichzeitig anderen Menschen aufzuzeigen, dass Gesundheit, Glück und Wohlbefinden das Leben bereichern. Ich fühle mich mit dem Wissen, das ich erwerben durfte, sicherer und kompetenter. Es fällt mir leichter, mich in den Alltag und in die privaten wie gesundheitlichen Probleme meiner “Klienten” hineinzuversetzen.

Vor und während der Ausbildung habe ich vornehmlich mit Gruppen gearbeitet. Gruppendynamiken sind nicht zu unterschätzen, ja herausfordernd. In der Einzeltherapie, der ich mich später zuwandte, erlebe ich mehr Nähe und kann den persönlichen Nöten größere Aufmerksamkeit schenken. Beim Blindenlauf bin ich automatisch noch enger mit der zu begleitenden Person verbunden. Wir halten Kontakt und “kommunizieren” mit einem zirka 40 Zentimeter langen zum Kreis geschlossenen Führband. Somit sind oft keine Worte nötig, sich zu verstehen und läuferisch voranzukommen.

Bereits vor und während der Ausbildung habe ich blinde und sehbehinderte Frauen und Männer kennengelernt. Im Großen und Ganzen ist ihr Leben nicht anders als das der Sehenden, denn sie haben die gleichen Ziele, Wünsche und Bedürfnisse. Der Unterschied ist, dass sie täglich viele Barrieren überwinden müssen. Für mich werden diese Menschen zu wenig gesehen, auch im Bereich der läuferischen Bewegung. Sehr früh habe ich gespürt, dass mir die Lauftherapie hier Türen öffnet. Ich will Sehbehinderte oder Blinde dort abholen, wo sie mich brauchen.